4.49. Jahreswechsel 18-19 : die Zeit der Ungewissheiten und der Hoffnung auf die große Wende

 

Die Durchmärsche ganzer amerikanischer Divisionen, die alle Schulen und Festsäle als Nachtlager benutzten und jeden Unterricht unmöglich machten, war wohl nicht die erste Sorge der Escher im Dezember 18 und Januar 19. Die Stadtverwaltung versuchte ab Januar 1919 stundenweise kurze Kurse nur für die Jungen (!) in behelfsmäßigen Lokalen abzuhalten. Die Truppen würden nach dem Rheinland weiterziehen und die Schulen freigeben... Die Knappheit der Lebensmittel war noch nicht überwunden doch die Lebensmittelkarten garantierten eine gewisse Gleichheit und man war zuversichtlich, dass die Lieferungen zunehmen würden. Vordergründig änderte sich die geopolitische Lage der Stadt Esch. Sie lag nicht mehr an der deutschen Grenze sondern – wie vor 1870 – an der französischen! Deshalb hoffe man unter anderem auf den Lagerbeständen der Ententemächte.

 

Alle anderen Fragen blieben offen.

 

Was würde aus dem Luxemburger Land werden? Wird es dem belgischen Königreich einverleibt werden? Es gab bürgerliche Kräfte, die für eine solche Perspektive eintraten, doch waren diese anscheinend nicht in Esch vertreten. Das tageblatt („t“) machte sich zum Sprecher der Alliance Française und warb sehr stark für die Teilnahme an deren öffentlichen Versammlungen. Die Artikel im „t“ waren selten unterzeichnet, wenn, dann signierte der Chefredakteur Franz Clement. Clement war 1914 für 5 Wochen von den deutschen Besatzern in Coblenz eingekerkert worden. (Er wurde im 2. Weltkrieg nach dem KZ Dachau deportiert und am 6. Mai 1942 im Euthanasiezentrum Schloss Hartheim bei Linz vergast.). In mindestens einem Beitrag plädierte Clement für den Anschluss an Frankreich. Etwas später scheint das „t“ auf das „Minimalprogramm“ der Ligue Française einzuschwenken , das „ein republikanisches Luxemburg  unter französischem Schutz“ anstrebte. Am 8. Januar war in Luxemburg die Republik ausgerufen worden. Große Menschenmengen waren, unter anderem auch aus Esch, nach Luxemburg gezogen, um die Ausrufung der Republik zu unterstützen.  Es gab an denen Tagen de facto 2 Regierungen, jene von Prüm und Reuter, die von den Regierungen der Entente nicht mehr anerkannt war und eine republikanische, provisorische Regierung Blum-Diderich-Gallé-Kayser-Krieps-Mark-Palgen-Schaack-Servais-Thorn-Ulveling-Dr.Welter (die auch nicht anerkannt worden ist). Sie betonte: „Il faut que le pays de Luxembourg vive et garde son indépendance.“ Am 9. Januar dankte die Großherzogin Marie-Adelheid ab, die diesen Schritt lange verweigert hatte und wohl dadurch überzeugt wurde, dass ihr Verzicht dem Überleben der deutschen Dynastie Nassau-Weilburg in Luxemburg eine Chance lassen könnte indem ihre Schwester Charlotte auf den Thron steigt. Da die kleine luxemburgische Armee, die sog. Freiwilligenkompanie im Aufruhr war, hatte der französische Platzkommandant, General de la Tour, seine Truppen eingesetzt, um „die öffentliche Ordnung“ aufrecht zu erhalten. Was oder wer ihn dazu bewegte, ist bis heute nicht ganz geklärt. Es ist nicht ersichtlich inwiefern diese Haltung, die doch eher der alten Regierung Sukkurs gab, den französischen geopolitischen Interessen entsprach.

 

Welche Währung würde es in Zukunft geben? In einer Situation, wo die Haushalte um ihre Versorgung bangten und die Zahlungsmittel schwankten, war diese Frage kruzial, umso mehr als im Gedächtnis an das vergangene 19. Jahrhundert die Währung immer wieder geändert hatte: 1803 wurde der französische franc germinal eingeführt. 1815 wurde de niederländische Gulden zur offiziellen Währung. 1832 kam der belgische Franken in Zirkulation. 1842, im Jahr des Beitritts zum deutschen Zollverein, zirkulierte ebenfalls der preußische Thaler. 1856 erhielt die BIL das Emissionsrecht für Franken. 1873 wurde eine Art Zentralbank gegründet, die ebenfalls Emissionsrecht hatte. Doch war diese 1881 bankrott. 1918 wurde erstmals von ein „franc luxembourgeois“ geschaffen aber es zirkulierte auch die Reichsmark des Besatzers. In Esch gaben mindestens 2 der 3 Schmelzen eine Art von Notgeld heraus, damit ihre Beschäftigten sich versorgen konnten: die Gelsenkirchener Bergwerks AG als Besitzer des Adolf-Emil-Hütte (später Belval) und die Aachener Hüttengesellschaft (Rothe Erde später Terres Rouges), die seit 1912 schon weitgehend fusioniert hatten. Es gingen in Verlauf des Januars 1919 Aufrufe an die Bevölkerung, die Reichsmark einzutauschen.

 

Wie würde es mit der Wirtschaft, mit den Schmelzen weitergehen? 

Die Zollunion mit dem deutschen Reich war vorbei. Von den verschiedenen Wirtschaftszweigen, die von einer parlamentarischen Kommission befragt worden waren, mit welchem Land sie sich engere wirtschaftlichen Bande vorstellen könnten, antworteten alle - außer dem Winzerverband - mit „Frankreich“. Die Winzer fürchteten durch die starke Konkurrenz zu den französischen Weinbauern unterzugehen.

Den Escher Stahlarbeitern stellte sich die Frage, wer künftig die Besitzer der Hütten sein würden. Die „Metzeschmelz“ (später Arbed-Esch-Schifflange) war von der Veränderung der Kräfteverhältnisse auf dem Kontinent vorerst nicht betroffen, da das Kapital nicht deutsch war. Die Adolf-Emil-Hütte würde wohl nicht mehr lange so heißen. „Rothe Erde“ lag auf dem Territorium zweier Staaten: die Hochöfen und andere eigentliche Industrieanlagen und die Verwaltung in Luxemburg, die Kühlweiher neuerdings in Frankreich und nicht mehr im deutschen Reich. Dazu gab es auch eine Rothe-Erde-Hütte in Audun-le-Tiche mit demselben deutschen Kapital. 

Es wird sich später herausstellen, dass der Wechsel de Kapitaleigner zu einem jahrelangen quasi-Stillstand der Schmelzen führen wird.

 

Da meine Quellen zu der Entwicklung in diesen kritischen Zeiten vornehmlich aus den alten Nummern des tageblatt stammen, sei noch zu bemerken, dass die Zeitung sich auch zu den europäischen Revolutionen, Oktoberrevolution seit November 1880 in Russland, antimilitaristische Meutereien und Novemberrevolution in Deutschland äußerte. Die Ablehnung der Bolschewiki und des Spartakusbundes von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht war im „t“ überdeutlich. Zum Spartakusbund wurden peinlich hasserfüllte Tiraden aus der rechten deutschen Presse abgedruckt. 

Eher ein Kuriosum ist die helle Begeisterung aus den Reihen des linken Studentenbundes Assoss für den französischen rechtsnationalen und antisemitischen Schriftsteller Maurice Barrès, der im Januar 1919 die Assoss besuchte und dort referierte. Hatte ihre Frankophilie den linken Studenten Scheuklappen verpasst?

 

 

07.11.2021

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