4.43 Politische und soziale Krisensituation zu Ende des 1.Weltkriegs

 

Je mehr der Krieg sich in den Schützengräben von Verdun in die Länge zog, desto mehr verschärften sich die sozialen und politischen Krisen bei den kriegsführenden Nationen und auch in Luxemburg.  In Deutschland hatten die Sozialdemokraten die Kriegskredite gegen den Widerstand eines Teils ihrer Mitglieder gestimmt; 1916 brach die SPD in zwei Teile, die USPD spaltete sich ab. In Russland kam es im März 1917 zum Sturz  des Zarenregimes (Februarrevolution), der sich dann bis November in den Sieg der Sowjets hineinwuchs (Oktoberrevolution). In Kiel meuterte die deutsche Ostseeflotte, in der viele radikale Metallarbeiter der Berliner Gegend als Matrosen eingezogen waren. 1916 war das Jahr, wo es in Luxemburg zum ersten Mal zur systematischen gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter kam. Es entstand so erst die Möglichkeit, Streikbewegungen auch wirklich durch zu ziehen.

 

In Esch, wo die Bevölkerung kaum noch die Möglichkeit zu einer eigenen landwirtschaftlichen Produktion hatte, litt die Bevölkerung unter Unterernährung und Krankheiten. Wer konnte, hamsterte bei Verwandten und Bekannten auf dem Land. Die eingewanderte Bevölkerung hatte diese Möglichkeiten nicht. In manchen Hinterhöfen wurden Kleintiere und Schweine gezüchtet. Mehrere tausend Escher hatten die Stadt verlassen. Die Front war weit von Esch entfernt, doch verspürten die Einwohner von Zeit zu Zeit den Luftkrieg. In der Hiehl und der Edisonstraße gab es Tote bei Bombardierungen.

 

Im Juni 1917 kam es zum Streik in der Stahlindustrie an dem sich 10.000 Mann beteiligten. Der internationale Einfluss der russischen Revolution machte sich bemerkbar. Mehr Lohn wurde gefordert um die Teuerung der Lebensmittel auszugleichen. Die Werke, die unter deutscher Direktion standen, die späteren Terre Rouge und Belval, forderten beim deutschen Gouverneur, Oberst Tessmar, Militär an, die Arbed-Werke nicht. Dieser Tessmar wurde 1923 von einem Kriegsgericht in Lüttich in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Er war, zusammen mit Oberst Hedemann, der Urheber des Massenmordes von Rossignol, in der nahen Gaume, dem 121 Zivilisten zum Opfer gefallen waren. So zogen in Esch und Differdingen Infanteriesoldaten im Stahlhelm und Husaren ein. Der Alarmzustand wurde ausgerufen und Ansammlungen im Freien verboten. Der Streik ging erfolglos aus.

 

Am 24. März 1918 forderten Fliegerbomben in der Fleischerstraße (avenue de la Gare) und in der Wassergaße 6 Todesopfer. Der Krieg rückte immer näher an Esch heran.   

 

Am 5. Mai 1918 kam es zu einer Demonstration gegen die Verteuerung der Lebensmittel an der sich auch die Stadtmusik beteiligte. Vom 1. Juni an waren alle Demonstrationen verboten. Ende Oktober, Anfang November wurden alle Schulen wegen der spanischen Grippe geschlossen. Es ist nicht bekannt wie viele Opfer diese Grippe in Esch forderte. Weltweit starben mehr Menschen an ihr als am Krieg, der 10 Millionen Todesopfer forderte.

 

Ab Oktober strömten die entmutigten deutschen Soldaten durch Esch zurück. Manche verkauften ihre Waffen und anderes Militärmaterial für „en Apel an e Stek Brout“ an die Bevölkerung. Die gefangenen russischen, französischen und belgischen Soldaten wurden befreit. Am 11. November 1918 wurde in Compiègne der Waffenstillstand unterschrieben. Am 20. November zogen die Amerikaner ein. Die Schulen wurden erneut geschlossen um bis zum 6. oder 8. Januar 1919 die Soldaten zu beherbergen. Das Ende des Krieges löste eine tiefe politische Krise in Luxemburg aus.

 

1917 und 1918 war es zu Parlamentsneuwahlen im Süden gekommen. Viele Wähler wurden mit Zügen zum wählen nach Esch befördert. Vor allem weil die Sozialdemokraten in der Regierung die Verschlechterung der Lebensbedingungen nicht aufhalten konnten, wurden die Wahlen zu einem Triumph für die Liste des Escher Hüttenarbeiters und Gewerkschafters Peiter Kappweiler, der “Freien Volkspartei“, die man heute als populistisch bezeichnen würde. Gewählt waren auch die Escher Theo Noesen und Bernard Herrschbach. Die Verstrickung von Regierung und Monarchie mit dem Besatzungsregime der Deutschen, ihre Unfähigkeit, für eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung zu sorgen, lösten wachsenden Unmut aus. Als am 13. November 1918 in der Kammer über die Abschaffung der Monarchie abgestimmt werden sollte, waren die Abgeordneten der Gruppe um Peiter Kappweiler das Zünglein an der Waage zwischen der Rechtspartei und dem Block der Liberalen und Sozialdemokraten, die die Republik anstrebten. Sie hatten am Tag zuvor noch in Esch für die Republik demonstriert.  In der Nacht zum 13. November hatte Staatsminister Prüm sie überzeugen können, sich bei der Abstimmung zu enthalten. So schlug der Antrag zur Abschaffung der Republik fehl.

 

Die Versorgungslage der Bevölkerung verbesserte sich nicht. Laut Flies hatte ein Spezereiwarengeschäft (épicerie) amerikanische Soldaten „überfordert“; gemeint sind wohl Wucherpreise. Es kam am 26. November zu einer regelrechten Revolte in der Alzettestrasse, bei der 25 Geschäfte geplündert wurden. Amerikanische MP’s griffen ein. Die Prozesse zur Entschädigung liefen bis 1940.

 

Die politische Krise verschärfte sich erneut in den folgenden Monaten. Die Großherzogin Marie Adelheid war in einem deutschen Hofstaat erzogen worden. Sie war in ihren Entscheidungen, u.a. verschiedene Gesetze nicht zu unterzeichnen, stark vom Bistum beeinflusst. Wegen ihrer allzu großen Nähe zur deutschen Besatzung war sie nicht mehr zu halten. Sie dankte ab und ging ins Kloster. Ihr folgte die nächstälteste Schwester Charlotte. Am  28. September 1919 wurde ein doppeltes Referendum abgehalten über welche Wirtschaftsunion eingegangen werden sollte (Frankreich oder Belgien) und um die Frage Monarchie oder Republik. Die Luxemburger wollten eine Wirtschaftsunion mit Frankreich, doch wollte die französische Regierung sie nicht, so dass es zu einer Union mit Belgien kam. Die Luxemburger sprachen sich mit großer Mehrheit (77.2%) für die Beibehaltung der Monarchie aus, nicht aber die Escher: sie stimmten zu 57 % für die Republik. Das zeigt wie groß der Graben zwischen der Mentalität der Escher und der der Mehrheit des Landes war.

 

 

Nach der Niederlage des wilhelminischen Deutschlands war es auch mit der ausgeprägten Germanisierung mancher Aspekte des politischen und kulturellen Lebens in Luxemburg vorbei. Man erinnert sich an die zahlreichen Straßenamen deutscher industrieller in Esch. 33 Escher hatten in der französischen Armee gedient. Manche liberale Kreise befürworteten einen Anschluss Luxemburgs an Belgien. Dies war im Zusammenhang mit der Handelskrise nach dem Krieg zu verstehen. Es war zum letzten Mal, dass die nationale Eigenständigkeit von der Bevölkerung in Frage gestellt wurde. Die Frankophilie gewann sprunghaft an Boden. Die Zeitung „l’Indépendance Luxembourgeoise“ wollte den Namen der Stadt Esch in Aix-sur-Alzette  umbenennen.

 

Im Juli 1919 demissionierte der Bürgermeister Nicolas Biwer. Er wurde für kurze Zeit durch Jean Pierre Pierrard ersetzt. Bei den Gemeindewahlen von 1920 gewinnen die Sozialdemokraten. Victor Wilhelm wurde Bürgermeister und sollte es bis 1935 bleiben; Jacques Thilmany  und Jos Kieffer wurden Schöffen.

 

 

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