4.38. Die ersten hundert Jahre der jüdischen Gemeinde von Esch

 

Metzervisse liegt etwa 10 km östlich von Thionville. Es ist ein kleines Lothringer Dorf mit seiner sehr breiten Hauptstrasse und den alten, tiefen Häusern mit nur leicht schrägen Dächern. In einem Scheunentor stand im Herbst 2006 ein alter Bauer, der luxemburgisch sprach; in Metzervisse würde man sagen: francique. Ich hatte am „monument aux morts“ bereits die jüdischen Namen bemerkt. Die letzte jüdische Einwohnerin des Dorfes sei vor 2 Jahren gestorben. 60 jüdische Familien habe es gegeben und eine Synagoge, die es noch gäbe, halb ruiniert, hinter der Apotheke. Ich konnte sie nicht finden. 60 Familien, vorwiegend Viehhändler, doch von den früheren Spielkameraden des alten Bauern hat keiner überlebt.

 

Die ersten Escher Juden kamen aus Metzervisse. Es waren Askenasen, die also aus Osteuropa stammten. Als allererster kam Simon Cerf, ein Vorfahre des bekannten Publizisten und Historikers Paul Cerf aus Esch, der 2003  verstorben ist. Paul Cerf und Isi Finkelstein publizierten 1997 ein Werk über, die Geschichte der Escher Juden, das außer der Reihe bei den Cahiers Luxembourgeois erschien. Ich hatte damals die Gelegenheit, einen bescheidenen Beitrag zu den Nachforschungen zu liefern. Das folgende inspiriert sich ganz aus dem Buch von Cerf und Finkelstein, das leider vergriffen ist.

 

Paul Cerf situiert die Ankunft der ersten Juden in Esch auf das Jahr 1836 oder 1837. Am 30.5.1837 wird jedenfalls ein kleiner Salomon Cerf geboren, das 6. von 8 Kindern von Metzger Simon Cerf(f) und Christine Bloc(k). Die Eltern werden 34 Enkel und 70 Urenkel haben. Simon Cerf und Christine Block hatten Metzervisse wohl deshalb verlassen, weil es zu viele Einwohner im selben Gewerbe gab. Seit der französischen Revolution genossen die französischen Juden volle Bürgerrechte. Die Verfolgung war jedenfalls nicht der Grund der Auswanderung nach Esch. Die Metzervisser Juden waren nicht reich und doch konnten die neuen Einwanderer vom Maurer François Jost ein kleines Haus Ecke Großstrasse, Schulstrasse kaufen und dort einen Metzgerladen betreiben. Das Haus hat 1989 einem Parking Platz gemacht. Im Kataster von 1842 ist auch bereits Michel Cahn als Besitzer eines winzigen Hauses von 0.60 Ar in der Vinzenzstrasse aufgeführt.

 

Paul Cerf erwähnt in seinem Buch, dass das Regime Wilhelm I. von Oranien-Nassau die Juden nicht verfolgte und auch keine zu schwierigen Einwanderungsformalitäten verlangte. Es sollte daran erinnert werden, dass 1836/37 in Luxemburg eine Doppelmachtsituation zwischen der belgischen und der holländischen Administration bestand. Esch war damals belgisch. Sprachschwierigkeiten hatten die neuen Esch keine; das Platt aus der Gegend von Thionville ähnelt dem Luxemburgischen wie ein Ei dem anderen.

 

Nach 1871, als Lothringen deutsch wurde, siedelten viele lothringische Juden nach Frankreich, Belgien oder Luxemburg über. Es kamen solche aus dem Rheinland, aus Westfalen und aus der Trierer Gegend hinzu. Vor der Jahrhundertwende hatten die ehemals lothringischen Juden zum großen Teil die luxemburgische Staatsbürgerschaft gegen eine Gebühr von 50-100 Goldfranken angenommen. Es gab zwei kleine Gebetsräume in der Großstrasse 8 und in der Handelsstrasse. Am 21. Juli 1898 wurde der Grundstein zur Escher Synagoge gelegt, die nach den Plänen des Staatsarchitekten Charles Arendt an der Ecke der heutigen Liberationstrasse, Vinzenstrasse und Wassergasse errichtet wurde. Am 28. Juli 1899 wurde sie eingeweiht. Die jüdische Gemeinde von Esch zählte damals 25 Familien, was etwa 100 Personen entsprechen dürfte.

 

An der Stelle der alten Synagoge, die von den Nazis zerstört wurde, hat die Escher Stadtverwaltung vor einigen Jahren einen sehr schönen kleinen Platz eingerichtet, der den Einwohnern des Viertels als Ruheplatz dient aber vor allem auch ein Memorial mit den Namen der Ermordeten der Shoa. Nur selten sieht man einen Passanten das Denkmal betrachten. Die moderne Synagoge, die nach dem Krieg errichtet wurde, befindet sich Ecke Canal- und Dicksstrasse.

 

Nach und nach dehnte die Stadt sich in die Richtung des Brill aus. Die Alzettestrasse (vorher Poststrasse)  entstand, und viele Geschäfte wurden von Escher Juden geführt. Im Mai 1940, vor der deutschen Invasion,  zählte die Alzettestrasse 87 jüdische Geschäfte, vor allem in der Bekleidungsbranche. Einige der üppigsten historisierenden Bauten von Esch gehörten jüdischen Geschaftsleuten und bilden heute noch die wertvollste alte Bausubstanz unserer Stadt. Am Festtag des Jom Kippur, des wichtigsten jüdischen Festes waren sie alle geschlossen, so dass an diesem Tag der Handel in der Alzettestrasse  zur Hälfte ruhte.

 

Nur wenige Escher Juden mischten sich aktiv ins öffentliche Leben ein. Wir kennen vor allem Lucien Cahen, Mitarbeiter von der „der Arme Teufel“, Sozialdemokrat und Freidenker. Ein Escher Jude, Nathan Steinberg, der mit seinen Eltern auf in der Burenstrasse gewohnt hatte bis seine Familie 1933 aus politischen Gründen ausgewiesen wurde, war Freiwilliger in den Internationalen Brigaden in Spanien. Er kam nach dem Sieg Francos nach Esch zurück. Am 7. November 1940 wurde er mit seiner Frau und seinem kleinen Kind von den Deutschen ausgewiesen. Über das weitere Schicksal seiner kleinen Familie ist nichts bekannt.

 

Steinbergs Eltern waren Ostjuden, die sich erst 1927 in unserer Stadt niedergelassen hatten. In den dreißiger Jahren wird die jüdische Gemeinde von Esch anwachsen. Das düstere Kapitel ihrer Geschichte deutet sich bereits an, besonders seit Januar 1933, als die Nazis die Macht in Deutschland übernahmen.
© Copyright Frank Jost, Weitergabe gestattet nur mit Quellenangabe 

Download
4.38.pdf
Adobe Acrobat Dokument 47.7 KB